Jeanne Eschert sprach am 2. Juli nach THE WORLD AT LARGE BARELY MOVES ME / SCHADE DU HAST SO ‘NE KOMISCHE WELTANSCHAUUNG mit einer Person aus dem Publikum.
Jeanne: Was hast du bei dem Stück erlebt?
M: Was habe ich erlebt? Ich habe ein Stück gesehen, das so ein bisschen das Verhältnis zwischen zwei Künstler*innen ausleuchtet, in dem sie zu Wort kommen. Und ich habe gesehen, wie sie zu Wort kommen. Diese Künstler*innen hat es historisch gegeben. Auf der Bühne wurden sie in verschiedenen Positionen im Wechsel von zwei Schauspieler*innen gespielt. Also oft waren die Figuren den zwei Schauspieler*innen zugeordnet, aber manchmal haben sie auch gewechselt. Es war eine Bühnenaufführung, relativ klassisch würde ich sagen, mit einem schönen Bühnenbild, mit einer Skulptur in der Mitte, die wie ein S aussah. Eine gute Kombination von zwei Schauspieler*innen, die eine gute Geschichte erzählt haben.
J: Und wenn du eine Reaktion, ein Gefühl, das du im Stück hattest, auswählen müsstest, welches wäre das?
M: Eine hohe Aufmerksamkeit würde ich sagen. Aber ich würde auch sagen: Betroffenheit. Ja, diese zwei Zustände, das Gefühl von Betroffenheit, aber auch das von sehr hoher Aufmerksamkeit, die ich gespürt habe, während ich mir das Stück angeschaut habe.
J: Und wo waren diese Gefühle für dich am stärksten?
M: Am stärksten war das, als es darum ging, wie die Figuren ihre eigenen Positionen gegenüber dem herrschenden Antisemitismus klar machen wollten. Die beiden Figuren haben in der Zeit des Nationalsozialismus gelebt und gearbeitet, und kennen sich sehr gut. Die eine Figur hat christlich-deutsche Wurzeln und die andere hat jüdisch-deutsche Wurzeln. Die Haltung zum Antisemitismus wurde in mehreren Situationen reflektiert, während des zweiten Weltkriegs, aber auch in der Nachkriegszeit. Ich schätze das Stück ging bis in die Mitte der 60er hinein.
Dadurch, dass die Verhandlung zwischen den beiden unklar blieb, wurde man selber sehr betroffen von dieser Situation. Man sieht dann irgendwie, dass der Ausweg scheinbar nicht so einfach ist. Das war so ein Moment, das war ein Dialog zwischen Mitte und Ende, und der war sehr stark und hat einen betroffen gemacht.
J: Und wann war es bei der Aufmerksamkeit besonders intensiv?
M: Das Moment der Aufmerksamkeit war, dass die Temperatur des Stücks auf einem sehr konstanten mittleren Wert war, und das Stück sehr zurückgezogen und bei sich war. Die Schauspieler*innen haben nicht so sehr nach vorne gespielt und uns angerufen, sondern die Figuren waren sehr bei sich. Und das hat bei mir dazu geführt, dass ich sehr aufmerksam war. Und ich darauf achten musste, was für mich relevant ist, was ich weiterverfolgen will, in den Diskussionen, in den zwischenmenschlichen Beziehungen der beiden Künstler*innen, die dort abgebildet wurden. Und weil das alles so roh ist, wie es ausgestaltet ist. Man denkt quasi: “Ah, hier das ist relevant, aber dieses andere jetzt, das ist nur ein nebensächlicher Konflikt.“ Und natürlich war ich auch aufmerksam wegen dem Thema. Also ich fand die Zeit auch interessant: Nachkriegszeit und die kommen aus Halle, haben irgendwie am Bauhaus studiert und das ist eine Perspektive die selten auftritt. Auch aus der Region einfach zu spüren, wie das mit dem Antisemitismus war und wie man damit umging. Das fand ich sehr spannend, weil das Thema oft eher sehr allgemein gesellschaftlich behandelt wird und weniger aus so einer sehr speziellen, persönlichen Position heraus. Da musste ich aufmerksam sein, weil vieles neu war. Das war über das ganze Stück so. Da gab es keinen expliziten Moment, sondern das hat irgendwie die Aufführung insgesamt von mir abverlangt.
J: Und was steckt in Betroffenheit alles so drin? Ist das zum Beispiel eine Traurigkeit?
K: Ja, also ein Gefühl der Traurigkeit steckt da direkt drin. Es steckt aber auch darin, dass man zu irgendetwas dazu gehört. Die Voraussetzung für Betroffenheit ist finde ich eine Zugehörigkeit zu einer Position, zu einer Gesellschaft. Und dass man das intellektuell mitverhandelt, in welcher Position man betroffen ist, aber auch dennoch davon emotional getroffen wird. Und ich glaube bei mir wird diese Betroffenheit ausgelöst durch eine Position, in der sich verschiedenes mischt. Zur einen Hälfte fühle ich mich zugehörig zu der deutschen Gesellschaft, Kultur und Geschichte und zur anderen Hälfte gehöre ich auch nicht dazu, weil meine Eltern nicht aus Deutschland kommen. Als jemand, der Situationen erlebt, wo man merkt, man gehört zu einer marginalisierten Gruppe, die erstmal auf so einer ethnischen Ebene, wenn man von dort aus guckt, vielleicht Nachteile hat – als so jemand kann man dann so eine Art Ausgegrenztheit aus einem gesellschaftlichen Kern miterleben und mitfühlen. Und das ist die andere Seite der jüdischen Künstlerin, die dort ist. Auch wenn die Dimension eine komplett andere ist. Die Dimension ist natürlich viel extremer als meine Dimension der Ausgrenzung. Aber das ist so ein bisschen der innere Kampf, der zwei Perspektiven auf die Geschichte. Die Uneindeutigkeit der beiden Figuren in ihrem Konflikt in der Nachkriegszeit, die habe ich auch bei mir gespürt, als ich es mir angeguckt habe. Und dadurch löst es Betroffenheit aus, die ich erstmal nicht hinwegwünschen kann. Das ist auch eine gute Erfahrung, die Theater macht.
J: Hat sich die Betroffenheit auch mit dem Gefühl der Aufmerksamkeit verbunden? Konntest du die Geschichte davon, wie sie erzählt wurde, trennen?
M: Die Geschichte wie sie erzählt wurde, hat maßgeblich dazu beigetragen, zu den Gefühlen der Betroffenheit und der Verantwortung durch das Wissen, dass sowas passiert ist. Und dann die Überlegung: Dass es andere Geschichten gibt, Geschichten die unklar sind, Situationen die unklar sind. Also auch von Menschen mit jüdischen Wurzeln selbst. Man denkt auch, wenn man jüdischer Herkunft ist und ganz besonders wenn man europäische Jüdin oder so ist, das es ganz klar ist, wie man handelt. Dass man mit solchen Menschen nicht mehr redet, dass man sie versucht vor Gericht zu bringen. Das ist alles dort nicht passiert. Die Person mit den jüdischen Wurzeln in dem Stück, die natürlich klar gegen Antisemitismus ist, macht es dann doch nicht. Ihr fällt es dem anderen Protagonisten gegenüber wohl schwer scheinbar. Und diesen Moment zu erfassen, mit Kopf und Herz den zu berühren, das kommt finde ich maßgeblich durch die Art der Aufführung. Weil sie für mich, wie ich beschrieben habe, ohne dass es mich überlastet, eine Aufmerksamkeit von mir abverlangt, die keine Kommas hat, die keine Groß- und Kleinschreibung hat, wo ich mich selber darin versuchen muss, zu orientieren. Aber das auch in einem Tempo, das für mich angenehm war. Das hat es gefördert. Das Moment der Betroffenheit und des Nachvollziehens, sich selber zu fragen: "Ok, was ist das für eine komische Position dort? Ist das ein Teil von mir? Kenne ich das von anderen Leuten, bei solchen Ereignissen keinen klaren Umgang zu finden oder keine eindeutige Position einzunehmen?" Das ist maßgeblich von der Inszenierung verursacht. Das ich das so betrachten kann.
J: War es diese mittlere Anspannung des Stücks, die erzeugt, dass du dich selbst darin verorten musstest?
M: Genau, es ist ein positives Verorten. Würde ich auch sagen. Ich durfte mich darin orientieren. Und es war nicht so, dass ich orientierungslos war. Es war nicht so, dass ich dem Stück ausgeliefert war und nicht entscheiden konnte, ob ich mitdenken und mitfühlen will. Sowas war es nicht, obwohl ich solche Erfahrungen schon sehr oft im Theater gemacht habe. Dass ich orientierungslos war. Dass ich mich nicht drauf einlassen konnte, auf den Inhalt des Stücks und was es machen will. Und hier hatte ich das Gefühl, ich konnte mich orientieren. Weil es etwas gab, das wie ein roter Faden war. Und ich konnte auch wieder zurückkommen in das Stück, wenn ich in Gedanken war und etwas reflektiert habe, das gerade im Stück gesagt wurde. Ich konnte mich orientieren, das ist glaube ich ein guter Satz, der das beschreibt.
J: Unter welchen Umständen wärst du tatsächlich orientierungslos gewesen?
M: Es ist ja ein fiktionales Werk. Wenn die Momente deutlich mehr gewesen wären, in denen es um ihre kleine Blase ging, also die der Künstler*innen in den 20ern mit ihren künstlerischen Erfahrungen. Ich glaube wenn das zu viel gewesen wäre. Es waren diese speziellen Figuren, denen ich, weil sie speziell sind, gerne zuhöre. Aber wenn das zu speziell gewesen wäre, zu ausführlich ein Milieu gezeigt worden wäre, das ich gar nicht kenne. Wenn zu sehr eine Sprache benutzt worden wäre, aus einem Künstler-Milieu aus Ostdeutschland aus der Mitte der 20er - 30er Jahre. Da habe ich immer gedacht: "Ok, bitte nicht mehr davon." Und da kam dann auch wirklich nicht mehr. Also es war genau in der richtigen Dosis.
J: Gab es einen Moment, der sich von deinem bisher beschriebenen Eindruck unterschieden hat?
M: Ich war nicht das ganze Stück betroffen, das war in kleinen Momenten. Die mir dann aber als gute Erfahrung im Bewusstsein hängen bleiben in einem Theaterstück, das es soweit treibt. Der große Teil des Stücks war nicht die Betroffenheit, sondern das Nachvollziehen der historischen Episode der deutschen Geschichte durch diese zwei Personen und der Konflikt zwischen den beiden. Eine Neugierde eigentlich auf etwas, eine neue, persönliche Perspektive auf den Antisemitismus der Nazis und den Antisemitismus nach dem zweiten Weltkrieg. Neugierde aber vor allem auch auf diese zwischenmenschliche Beziehung, die den Antisemitismus als Horizont hat. Da will ich dann gucken, wie sie reagieren. Die Personen sind nicht ganz klar und in sich sehr widersprüchlich und das ist natürlich mega-spannend. Diese Betroffenheit, das sind diese Peak-Momente, diese besonderen Momente.
J: Gab es für dich Momente, die aus diesen Erfahrungen herausgebrochen sind?
M: Auf so einer inhaltlichen Ebene nicht, aber auf einer formalen Ebene gab es Brüche, indem verschiedene theatrale Formen genutzt wurden. Die Figuren sind mal sehr abstrakt in diesem Bühnenraum. Sie spielen diesen Bühnenraum auch pantomimisch nach, sie öffnen Türen, wo keine Türen sind. Dann gab es Momente, in denen Briefe gesprochen wurden, in denen sich das Licht verändert hat und so atmosphärisch wurde. Eine andere Art der Ansprache und des Schauspiels. Es gab viele verschiedene Brüche.
J: Hast du etwas von dem Abend erwartet?
M: Nein, gar nichts. Ich kannte noch nicht einmal den Titel. Ich wusste gar nicht, worum es geht. Ich bin reingelaufen in ein Theaterstück, wo ich noch nicht mal wusste, ob es ein Theaterstück ist oder eine Installation. Ich wusste gar nichts. Ich wusste nicht, was ich da zu sehen bekomme. Es hätte auch ein Vortrag sein können.
J: Und weswegen bist du dann dort rein gegangen?
M: Ich bin reingegangen, weil ein Freund zu mir gesagt hat: Komm mit.
J: Und im Rückblick? Wüsstest du, wofür du da warst?
M: Von außen wüsste ich jetzt nicht, wieso ich da rein gehen sollte. Aber nachdem ich das Stück gesehen habe, würde ich sagen metaphysisch oder spirituell ist der Grund, warum ich das gesehen habe: Neugier zu haben auf die Perspektiven der zwischenmenschlichen Beziehungen von damals. Und wie der Holocausts darauf gewirkt hat. Und dass ich, glaube ich, aufmerksamer auf die kleinen Geschichten geworden bin und gucke, wo es noch mehr solcher Geschichten gibt.