Jeanne: Was hast du mit dem Film erlebt?
A: Es ist visuell unglaublich anziehend, aber es blieb narrativ für mich sehr kryptisch. Ich hatte immer wieder so Momente, wo ich versucht habe, einen Eingang zu der Geschichte zu finden, die aber auch dann wieder weg war, sobald ich irgendwie nah dran war einsteigen zu können. Also es hat sich mir sehr bewusst entzogen. Das Visuelle ist so sehr üppig, obwohl es wenige Räume gibt, ist es trotzdem wahnsinnig opulent. Aber auf einer anderen Ebene ist es auch sehr knäckebrotig. Und in diesem Widerspruch dieser beiden Ebenen, habe ich mich wahrgenommen. Auf der einen Ebene wird total viel geboten und auf der anderen Ebene wird einem total viel entzogen.
J: Wenn du es mit einer Reaktion beschreiben würdest. Welche Reaktion wäre das?
A: Hm. Ich überlege gerade, wie ich Orientierungslosigkeit positiver formulieren kann. Also es stimmt, dass es herausfordert, dass man ganz wenig vorgegeben bekommt, was man damit anzufangen hat und ich habe mich da schon suchend gefühlt. Ich fühle mich herausgefordert, doch irgendwie einen Einstieg zu finden oder doch irgendwie damit zurecht zu kommen, oder herausgefordert, meinen eigenen Reim daraus zu machen. Oder herausgefordert, die eigene historische Gegebenheit besser zu kennen.
J: Ich verstehe unter „herausfordernd“, dass du dich nicht orientierungslos zurückgelassen gefühlt hast. Auf welche Weise konnte dir der Film Halt geben?
A: Was mich wirklich so reinzieht ist das Visuelle. Das mir etwas an die Hand gibt und mich motiviert. Und ich glaube was mich herausfordert, ist der sehr komplexe Roman mit sehr vielen Figuren erweitert um noch mehr Texte, die nicht dazugehören und sich auch noch verbinden mit dem historischen Panorama. Das ist herausfordernd, es einerseits zu verstehen, wer zu mir spricht und wie sie selbst zueinanderstehen, wo spielt das überhaupt? Auch wenn ich weiß in München, aber wo genau?
J: Ist es die Perspektive auf Geschichte die herausfordert?
A: Die Komplexität der Ereignisse, die mit einer trockenen Stimme erzählt werden und emotional nicht vorgeformt sind. Ich muss also wirklich genau zuhören, um zu den krassen Sachen die gesagt werden, ein Verhältnis zu haben. Dass mir das alles nicht vorgegeben wird, das fordert mich heraus.
J: Unter einer negativen Beschreibung von Orientierungslosigkeit, würde ich das Überfordert-sein verstehen.
A: Ja. Herausfordernd und Überfordernd. Ich möchte gar nicht alles vorgegeben bekommen. Das finde ich super. Ich will mich ernst genommen fühlen, während ich das gucke und ich will da auch denken. Aber das ist zum Teil auch sehr überfordernd, weil viele Dinge auch sehr hermetisch darin sind, weil so viel Material da ist und man weiß gar nicht, wo man jetzt anfängt zu suchen.
J: Wenn es jetzt dieses Verhältnis zwischen herausfordernd und überfordernd ist, kannst du bestimmte Momente ausmachen, wo es von dem einen zum anderen gewechselt ist?
A: Ich glaube herausfordernd war es immer dann, wenn der Vorgang sehr klar war. Also immer wenn ein Vorgang im Spiel war. Wenn zum Beispiel gegen Ende einer der Szenen die Spielerin an einem abstrakten Fenster steht und sich entkleidet und im Bademantel wieder auftaucht. Das ist für mich eine sehr konkrete Szene und die verbindet sich mit der Erzählung. Das war weniger der Vorgang, aber es war etwas visuell sehr starkes. Oder wenn die zwei Spieler*innen im Wasser von oben gefilmt werden.
Und ich glaube, wenn Dinge sehr statisch wurden, hat es mich schnell überfordert, weil ich viele Reize brauche. Nach meiner Sehgewohnheit schalte ich sonst schnell ab.
J: Kannst du beschreiben wie sich dieser Zustand der Orientierungslosigkeit oder auch das Verhältnis zwischen herausfordernd und überfordernd anfühlt?
A: Ich habe so ein bisschen die Zeit vergessen. Ich denke das liegt daran, weil gegen einen dramaturgischen Bogen gearbeitet wird. Es gibt für mich keinen erkennbaren Punkt, an dem der Film enden müsste. Deswegen war es sehr zeitlos. Ich wusste gar nicht, wie lang ich das jetzt schaue und der Film sagt mir das auch nicht, wieviel Zeit gerade vergeht oder in welcher Zeit wir uns gerade befinden. Das ist alles so sehr von der Zeit enthoben.
J: Hat diese Zeitlosigkeit die Orientierungslosigkeit noch verstärkt?
A: Es ist eher ein Nebenprodukt, aber eins das ich mehr genieße. Also ich kann auch die Orientierungslosigkeit genießen, aber sie kann auch manchmal überfordern. Aber die Zeit zu verlieren, ist für mich etwas sehr Positives.
J: Ist durch die Orientierungslosigkeit eine Distanz zu dem Film entstanden?
A: Jein. Es hatte eben diese zwei Ebenen. Die Bilder als das Opulente und die Erzählung als das sehr Trockene und Hermetische. Da oszilliert auch nichts dazwischen, sondern sie laufen sehr parallel nebeneinander her. Man spürt irgendwie beides zugleich, sehr parallel. Es gibt da etwas, das mich sehr anzieht und ich total einsteige, weil ich von dieser Ästhetik so angezogen bin, und gleichzeitig gibt es eine totale Distanz zu dem, was in der Erzählung verhandelt wird.
J: Gibt es auch noch etwas, das während des Abends passiert ist, das komplett abseits von dem steht, was wir bis jetzt besprochen haben?
A: An der einen Stelle, in der die Spielerin so richtig laut schreit. Das ist etwas, das sehr stark bricht mit dem was davor und danach passiert ist. Plötzlich hat sich nichts mehr abstrakt angefühlt, sondern ganz, ganz, ganz, ganz greifbar.
J: Was war deine Reaktion in dem Moment?
A: Ich habe zuerst gelacht, weil es so unerwartet ist. Also eine erstmal sehr affektive Reaktion, weil ich gar nicht wusste, was da jetzt eigentlich passiert. Und ich habe auch aus Freude gelacht, weil es so ein toller Moment war.
J: Was war für dich besonders zentral?
A: Wirklich ganz, ganz deutlich die Bilder. Und dieser Moment im Wasser. Diese Farben sind so besonders und die Milchigkeit und der Marmor. Die Bilder waren super zentral, auch weil sie mich am meisten am Ball gehalten haben.
J: Wieso hat dich das Visuelle gehalten?
A: Man kann es in so verschiedene Richtungen sehen und ich hatte beim ersten Bild direkt ein paar Assoziationen gehabt mit den Vorhängen zu Twin Peaks und diesen roten Vorhängen. Das habe ich sehr genossen als Assoziation. Die wurde glaube ich auch zum Teil bewusst getroffen. Vielleicht auch nicht, weil es überhaupt nicht ähnlich ist, aber es löst diese Assoziation aus. Das finde ich daran sehr cool.
J: War diese Überforderung und das Suchen bei dem Visuellen weniger als beim Gesprochenen?
A: Ja! Es ist mehr abstrakt und dann assoziiere ich mehr. Es ist nicht der Versuch, es zu durchdringen, sondern meine Assoziationen kommen direkt. Ich suche auf irgendeine Art und Weise auch, aber die hat sehr viel weniger mit verstehen zu tun. Ich entspinne von alleine meine Gedanken.
J: Hast du davor eigentlich etwas erwartet?
A: Also nach dem ich einige Arbeiten von der Regisseurin gesehen habe, wusste ich mehr oder weniger, was mich erwartet. Sie bleibt sich in ihren Arbeiten sozusagen treu und trotzdem war ich heute Abend überrascht, weil diese Arbeit eine andere Temperatur bekommen hat. Es ist genau das, was die Regisseurin auch sonst macht, aber irgendwie in einer anderen Temperatur. Das ist witzig.
J: Hat diese Veränderung mit der Temperatur auch etwas an deiner Orientierungslosigkeit verändert?
A: Vielleicht schon ein bisschen. Die sonstigen Stücke von ihr habe ich in der Naxoshalle gesehen und die gibt ja schon so viel an Räumlichkeit vor. Der ganze Raum ist so prägend und wirkt dann anders. Und jetzt habe ich das erste Mal gedacht: "Aha, so sieht das vielleicht auch im Kopf der Regisseurin aus". Und trotzdem bleibt der Text, das Spiel, das Thema gleich, aber irgendwie wirkt es einfach anders. Das habe ich nicht erwartet.
J: Hast du etwas vermisst?
A: Schon ein paar Sachen, aber die werden mir bewusst auch nicht gegeben. Ich merke da arbeitet eine Person ganz bewusst gegen das, was ich vermisse. Aber ich habe vermisst, dass da auch eine Figur zu mir spricht. Momentweise sind die da gewesen, aber dass ich diese Namen, die in dem Text vorkommen, wirklich mit entsprechenden Körpern verknüpfen kann, hat mir gefehlt. Das hätte denke ich weniger überfordert, wenn diese Figur sehr viel mehr Konturen annehmen darf.
J: Ist das, was du erlebt hast, denn etwas, das du im Theater erleben möchtest?
A: Ja auch, auch wenn ich glaube, nicht nur. Aber es trägt auf eine coole Art und Weise der Vielfalt bei, was Theater sein kann. Dann finde ich es interessant, wenn wer die eigene Vorstellung so sehr stur in die Tat umsetzt. Auch wenn es mich selbst nicht so vom Hocker haut, genieße ich sehr, was es so will. Ich fände es nicht toll, wenn das Theater nur so wäre, aber ich finde das gehört zu einem Spektrum dazu, wie Theater gemacht werden kann.
J: Kannst du beschreiben, was du glaubst, was es will?
A: Ich glaube es will so eine andere Zeit, in einer anderen Stadt vor ungefähr hundert Jahren untersuchen. Ich glaube es untersucht ein Material mit zum Beispiel einer Mischung von verschiedenen Zitaten und Ereignissen. Und irgendwie guckt man dabei zu, was diese Untersuchung hervorgebracht hat.
J: Könntest du sagen, dass deine anfänglich beschriebene Reaktion spürbar ist durch den Umgang mit dem Material?
A: Ich glaube in einem Wust von Material ist nicht immer ein roter Faden da, sondern das ist erstmal da. In so einer herkömmlichen Geschichtsschreibung wird ein roter Faden erzählt, der viele andere Sachen im Material ignoriert.
J: Wofür würdest du sagen hast du den Film jetzt im Rückblick gesehen?
A: Ich glaube Theater ist für mich so ein soziales Ding, dass ich mir fast alles angucken würde und dann gucke, was da passiert und was das mit mir macht. Erstmal bin ich allem gegenüber neugierig, aber warum ich hingehe, ist der soziale Aspekt. Leute kennen, Leute treffen. Na klar auch ein bisschen ein Interesse an dem Stoff kommt auch dazu. Aber ich bin so völlig neugierig und gucke so völlig zweckfrei. Ich lese auch nie vorher Programmhefte und frage mich nicht, ob es mich interessiert. Meine Entscheidung fällt viel früher. "Finde ich den Titel gut? Kenne ich die Regisseur*in?". Also die Entscheidung findet statt, bevor ich mir überlege, wozu ich das sehen möchte.