Philipp: Kannst du beschreiben, was du mit dem Audiowalk erlebt hast?
E: Ich habe eindeutig eine Zeitreise erlebt. Das glaube ich am ehesten. Ich weiß noch, dass es der erste warme Tag war und ich bin durch eine sehr volle Stadt gelaufen mit vielen, vielen Menschen und ich war trotzdem in einer parallelen Welt. Ich habe andere Sachen gesehen, als dass was die Menschen um mich herum gesehen haben, indem ich mir vorgestellt habe, wie Frankfurt in der Zeit damals ausgesehen hat oder haben könnte.
P: Was hat die Arbeit bei dir ausgelöst? Könntest du eine Reaktion benennen?
E: Ich überlege gerade. Naja, es war eine Mischung. Sowas wie Mitleid, das schon ein bisschen bröckelt und wo an ein, zwei Ecken die Gleichgültigkeit hervorkommt. Es ist einerseits eine krasse Geschichte, ein krasses Schicksal und gleichzeitig merke ich doch, dass es mich nicht so sehr berührt wie die ersten konkreten Schicksale, von denen ich überhaupt gehört hatte. Ich fand es irgendwie total krass, auf dem Goetheplatz zu stehen. Das war für mich mit der eindrucksvollste Moment, da auf diese Fassade zu schauen, dieses Haus zu sehen und zu sehen: aha da oben, in dieser Etage hatten sie ihr Atelier., Dann wurden sie rausgeschmissen und dann war es irgendwann die Parteizentrale der NSDAP in Frankfurt. Wenn ich mich richtig erinnere. Das war aber so ein Gebäude, das so ganz klar auszumachen war und wo zumindest die Fassade noch da ist und wo man da stehen kann und sich das angucken kann und im Kopf dann einfach so eine Veränderung stattfindet.
P: Kannst du diese Veränderung beschreiben?
E: Ja, das ist so ein bisschen filmisch geprägt, dass dann der Blick auch so ein bisschen schwarz-weiß wird. Also das meine ich damit, dass ich was anderes gesehen habe als die anderen Menschen, dass ich dann dastand und darunter halt nicht mehr Zara war und irgendwelche anderen Läden, die da heutzutage sind. Das war in meiner Wahrnehmung dann alles nicht da. Ich habe jetzt nicht irgendwelche alten Autos oder Pferdefuhrwerke gesehen oder so. Aber auf einmal war da dieser Ort dort oben, in einem Haus das für mich eigentlich super geschichts- und gesichtslos war, weil ich zu dem Haus noch überhaupt keinen Bezug hatte. Es war ein Ort, wo sich ausgetauscht wurde, wo was Kreatives entstanden ist und wo einfach was gelebt hat, was irgendwie pulsiert hat. Und dass sie dann nicht nur nicht mehr arbeiten durften, sondern dass ihnen dieser Ort genommen wurde und dass dann dieser Ort auch noch von denen vereinnahmt wurde, die ihn ihnen genommen haben, das fand ich schon sehr stark. Ja, und ich weiß gerade nicht, wie ich das in ein Gefühl fassen soll.
P: Aber dieser Moment wäre für deine Reaktion zentral?
E: Ja, total. Also es kam dann später nochmal, wo es dann um den Versuch ging, Entschädigungszahlungen zu bekommen. Da fand ich jetzt den Moment am Schluss nicht so stark. Ich fand aber wiederum stark, dass der Weg dorthin, an diesen Ort zu kommen, auch so lang war. Vorher die erste Hälfte hat super gepackt und dann wurden die Sachen so ein bisschen dünner und dann muss man diesen langen Weg gehen und kommt dann dort an, wo sie selbst auch so einen langen Weg gehen musste und irgendwie – ich weiß gar nicht mehr, wie es ausgegangen ist.
P: Um weiter zu bohren, wie man diese Reaktion genauer fassen kann: Würdest du sagen, das war eher eine emotionale oder eher eine intellektuelle Sache, was es mit dir gemacht hat?
E: Ich würde sagen eine emotionale. Es war eine Emotion aus einer Fantasie heraus. Es ist glaub ich ein bisschen was Atemloses, so könnte man das nennen. Es war ungefähr so: Du baust das in deinem Kopf auf. Du gehst diese Biografie mit und baust dir das dann sozusagen zwangsweise in deiner Fantasie nach, weil du bist ja an diesem Ort, der der gleiche Ort ist, aber der jetzt ein anderer ist. Und auf einmal musst du alles, was du dir baust, also im Endeffekt auch das, was die sich aufgebaut haben, das musst du wieder wegradieren. Und du musst dann da was Neues einsetzen. Du hast die Fantasie, dass da so ein Atelier ist, wo noch bis spät in die Nacht gearbeitet wird, wo sich getroffen wird, was wirklich so pulsierend ist, und auf einmal musst du das wegnehmen und musst das ersetzen durch ein Parteibüro. Und dann musst du da noch die Fahnen davor hängen, damit sozusagen dieses Bild wieder stimmt. Und das ist schon ein Schritt, der eine bestimmte Überwindung braucht. Und das hat schon so ein bisschen eine Atemlosigkeit. Ohnmacht vielleicht auch.
P: Vorher hast du Mitleid gesagt, ist das etwas anderes, dass sich auf die Arbeit insgesamt bezogen hat?
E: Ja, also ich glaube das Mitleid ist natürlich auch da. Mitleid ist halt so ein leicht negativ besetztes Wort. Man fühlt sich dabei so ein bisschen hilflos und es hat aber auch so ein bisschen was Distanziertes. Das ist halt auch ein bisschen das Problem daran. Also je weiter das Geschehene weg ist und je weiter die Schicksale weg sind, desto weniger greifbar werden die Sachen einfach. Ich glaube irgendwann wird die emotionale Greifbarkeit, weil du das eben auch gefragt hast, die wird schwieriger werden und die intellektuelle Greifbarkeit wird in den Vordergrund rücken. Es wird Menschen geben, die sagen: Ich weiß das, es gibt wissenschaftliche Abhandlungen darüber und Aufzeichnungen, das hat es gegeben. Aber ich selbst habe noch Zeitzeugen kennen gelernt, und Gespräche mit Zeitzeugen haben einfach immer eine andere Direktheit. Und das ist bei so einen Walk, dadurch dass es halt eher wie ein Hörbuch oder wie ein Radiofeature funktioniert, weil du gezwungen bist, dir im Kopf was zu denken, schon auch lebendiger. Anders, als wenn du dir ein Stück dazu anguckst, wo dann visuell zumindest für dich schon Antworten gegeben werden.
P: Kannst du sagen, was du vorher erwartet hattest?
E: Ich habe auf jeden Fall einen schlechteren Audiowalk erwartet. So wie viele Audiowalks eben sind, man hat so ein bisschen etwas hier und dann gehen wir jetzt dahin und dann bleibt man irgendwo stehen und hört sich zu der Sache was an. Ich hatte vorher gar keine Ahnung gehabt, was das Schicksal von Künstler*innen in Frankfurt in der NS-Zeit konkret betrifft. Dafür bin ich noch nicht lange genug hier und kenne mich zu wenig mit der Geschichte der Frankfurter Künstler*innen aus. Das war glaub ich irgendwie meine Herangehensweise: Ich werde mir jetzt etwas anschauen, etwas erleben, was mich dem einfach näherbringt, und ich bin total gespannt was da kommt. Ich hatte vorher Widerhall von Marie Schwesinger gesehen und hatte mir schon gedacht, dass es wahrscheinlich dicht sein wird, was die Basis angeht. Ich fand Widerhall hatte eine große Dichte gehabt, da waren einfach sehr viele Informationen, die dem zugrunde lagen. Das war eine Sache, die ich erwartet habe, dass ein ähnliches Fundament da sein wird. Ich glaube von ein, zwei Postings im Internet hatte ich noch erwartet, dass es noch mehr Szenen auf dem Weg gibt.
P: Du hast gesagt, dass du einen schlechteren Audiowalk erwartet hast. Das klingt so, als gäbe es eine gewisse Frustration mit Audiowalks, inwiefern war das bei diesem anders?
E: Eine Sache, die ich sehr angenehm fand, war, dass ich mich nicht allein gefühlt habe auf dem Walk. Ich hatte nicht das Gefühl, ich habe jetzt irgendwie so ein Ding im Ohr und muss mich damit in der Stadt zurechtfinden. Dadurch dass einfach Begegnungen passieren, habe ich immer das Gefühl gehabt, dass ich von Anfang bis Ende in etwas eingebettet bin. Also um das zu spezifizieren: diese Begegnungen mit der Fotografin. Dass die immer wieder irgendwie da ist. Und dass die Person, die das spielt, weiß, dass ich das jetzt gucke, dass ich dann da langlaufe. Das sind so Sachen, die es weniger random gemacht haben. Es gibt ein bestimmtes Tempo, das man einhalten muss, man merkt, man hat dadurch ein bisschen weniger Freiheit, irgendwo länger stehen zu bleiben, weil man eben in einer Inszenierung irgendwie auch eingebunden ist. Ich fand aber dieses Gefühl total angenehm. Ich fand gleichzeitig gut, dass die Auftritte sehr dezent waren, dezenter als ich erst gedacht habe. Das fand ich sehr gut, dass ich nicht noch in so eine Verlegenheit kam, sondern dass das, was ich mir fantasiert hatte, auch bestehen bleiben durfte und nicht durch zu viel Inszenierung verändert wurde. Im ersten Moment, wenn dann die Fotografin im Text beschrieben wird, wirkt es mehr so zufällig: Guck dich mal um, und dann steht da halt so eine Person, und es hätte wirklich auch einfach Zufall sein können, das fand ich total stark. Das war eine Form von Leichtigkeit, die ich sehr sympathisch fand. Da dachte ich: darauf lasse ich mich gern ein, wenn das irgendwie so weitergeht.
P: Gab es etwas, das ganz anders war, als das worüber du bis jetzt gesprochen hast? Etwas, das eine andere Art von Reaktion ausgelöst hat?
E: Es gab einen Moment, der sehr krass war, auf dem Weg an der Fressgass entlang und dann an der Oper und dann in den Park rein. Da kommt man zwischen diesen fancy Cafés durch. Da bricht es kurz auf, da wurde mir das so klar, dass ich halt in Frankfurt gerade langlaufe und hier jetzt diese Cafés sind. Da wurde das, was gegenwärtig um mich rum ist, plötzlich dominant. Die Geschichte, die dort über die Oper erzählt wurde, konnte an dem Punkt nicht gegen das ankämpfen, was außenrum passiert ist. Da war einfach so viel, da fiel es mir schwer mich zu konzentrieren, da weiß ich kaum noch, was da der Text war. Vor allem weil der Opernplatz halt in der Corona-Zeit eben nochmal wichtiger wurde. Der Ort wo sich getroffen wurde, der Platz zum sehen und gesehen werden.
P: Lass uns nochmal zurückgehen zu deiner Reaktion, wie kann man dem noch näherkommen, was das genau war?
E: Also ich muss in der Fantasie, ich weiß jetzt nicht welche Abteilung das war, SA oder SS oder andere, die dort in das Atelier reingegangen sind, das muss ich ja in meinem Kopf vollziehen. Also das, was ich selber aufgebaut habe in der Fantasie, muss ich gewaltvoll wieder einreißen. Und das ist halt schon, so absurd das ist, der Moment, in dem ich mich dem Schicksal am nächsten gefühlt habe.
P: Ist Skrupel ein sinnvolles Wort dafür?
E: Ja.
P: Oder Scham?
E: Scham auf jeden Fall, aber Scham, das habe ich ganz häufig bei der Thematik. Als Teil des Tätervolks gibt es da einfach für mich ganz häufig schamvolle Momente, weil natürlich ich nicht wüsste, wie ich mich verhalten hätte, wenn ich in der Zeit gelebt hätte. Also ich finde jeder der behauptet das zu wissen, ist da sehr kühn.
P: Du bist in diesem Moment jedenfalls in eine relativ aktive Position gebracht worden, oder? Wo du eine Haltung einnehmen musst. Und die emotionale Reaktion hat mit der Schwierigkeit zu tun, diese Haltung zu finden?
E: Ja, das ist eine suggestive Frage, aber ich glaube ja. Eine Emotion, die insgesamt für mich eigentlich relativ dominant war, war ein Gefühl von behütet-sein, also sich nicht alleine fühlen. Das hat für mich diesen Walk als Ganzes ausgezeichnet. Und das andere, ja, Skrupel, das könnte es schon ganz gut treffen. Also diesen Moment, an einem Punkt auf einmal die Seiten wechseln zu müssen, um der Geschichte im Kopf weiter folgen zu können.
P: Gibt es etwas, das du vermisst hast?
E: Ja. Ich hätte glaube ich gerne ein Bild von den Protagonistinnen gesehen. Ich weiß auch nicht, vielleicht ging es auch darum, dass da eben ganz viel nicht mehr existiert. Zum Beispiel: Was haben die fotografiert? Was war der künstlerische Blick von den beiden? Das war eine Sache, die mich sehr interessiert hat. Es gibt ja auch gerade aktuell eine Ausstellung über die beiden. Vielleicht hätte ich dann noch mehr nachvollziehen können, was deren künstlerische Arbeit ausgemacht hat.
P: Hast du das als Entscheidung der Arbeit empfunden, dass sie das nicht gemacht haben?
E: Ich dachte so: Das hat Gründe. Entweder gab es solche Bilder nicht, oder es war eine Entscheidung.
P: Ich will noch einmal auf deine Reaktion zurückkommen. Ich würde es jetzt mit „Skrupel“ überschreiben. Ich glaube, dass dieser Begriff etwas sehr Spezifisches benennt, was die Operation betrifft, die du in der Fantasie gemacht hast.
E: Wie heißt das, wenn man etwas schade findet? Es ist halt so: Ach Mensch! Das klingt so ganz platt, aber so ganz blöd abstrakt gesehen, habe ich einfach ein Puppenhaus gebaut, das habe ich jetzt gerade so schön eingerichtet und das muss ich dann wieder weg machen. Und dabei ist die Scham, dass das eben ein merkwürdiges Ding ist, dass ich es persönlich doof finde, dass ich jetzt meine Fantasie ändern muss. Das liegt ja leider daran, dass für andere Menschen sich das Leben geändert hat. Ich muss jetzt leider, leider meine schöne Fantasie aufgeben. Und deswegen finde ich Skrupel passt doch nur halb. Weil ich mich eher in einer passiven Rolle dabei sehe. Es ist daher eher wirklich Enttäuschung. Da ich mein Fantasiehaus quasi wieder abreißen muss, das ist eben enttäuschend. Ich habe nicht wirklich Skrupel gehabt, das zu tun, das ist einfach so, weil die Geschichte so war.
P: Würdest du sagen, das was du mit dem Audiowalk erlebt hast, ist etwas, dass du mit Kunst erleben willst?
E: Ja, total. Da kann ich sagen, das ist etwas, das war wirklich herausragend, dass ich einmal dichte Informationen bekommen habe, aber dazu noch super viel Fantasie benutzen musste und es dadurch auch sehr emotional wurde. Und das ist ja das, was man so erhofft, egal in welche Form das dann genau geht.
P: Wofür würdest du sagen, wollte das Team dir das zeigen? Was wollten die von dir, welche Erfahrung solltest du machen?
E: Ich glaube fast, dass ich die Erfahrung gemacht habe, die sie wollten. Also das Sichtbar-Machen von Biografien, von Geschichten, die mitten in der Stadt passiert sind, die an Orte geknüpft sind, die wir jeden Tag sehen, wenn wir durch die Innenstadt gehen. Also in gewisser Weise der gleiche Grund, warum es Stolpersteine gibt. Also neue emotionale Verknüpfungen zu Orten, ein anderes Verhältnis zu einem Ort herstellen, von dem ich dann etwas Neues weiß. Ich werde den Goetheplatz jetzt einfach immer mit diesem Schicksal verknüpfen. Ich werde da immer hochschauen und das Atelier sehen und ich werde aber auch immer an der Fassade die Hakenkreuzfahnen sehen, das wird nicht mehr aus meinem Gedächtnis rausgehen.