Jeanne Eschert sprach am 23. Juni nach DAS ERBE - Schon cool, was da alles möglich ist! mit einer Person aus dem Publikum.
Jeanne: Möchtest du kurz erzählen, was du erlebt hast?
L: Ich bin dort hingegangen, weil mein Sohn sich mit dem Kinderkriegen beschäftigt. Ich hatte ihm das geschickt, weil ich schon mal etwas von der Gruppe gesehen hatte. Und er hat spontan gesagt, dass er da hingeht. Ich selber bin schon 68 Jahre alt, und die Fragen stellen sich mir nur im Nachhinein.
J: Welche Fragen?
L: Wie Kinderkriegen funktioniert. Ich habe schon Kinder. Aber bei mir kamen die Erinnerungen und das ist meine Antwort auf deine Frage. Die Erinnerungen, wie das eigentlich war in der Zeit, als das anfing, das habe ich erlebt. Als ich 28, 30, 32 war, wurde das in der Zeit irgendwie Thema. Das wurde alles hier angesprochen. Zum Beispiel, dass um mich herum in einer bestimmten Zeit alle Kinder kriegen und so. Und wie es ist, wenn man dazu keinen Mann hat. Das waren ja die Fragen ganz am Anfang, die einem, mir jedenfalls, in dem Alter sehr vertraut waren. Und dann fängt der Film auf einmal an, den ich in dieser Zeit hatte. Aber Adoption war für mich nie ein Thema. Man wurde in dem Stück konfrontiert mit verschiedenen Möglichkeiten und musste dann immer zwischen diesen wählen. Ich habe mich übrigens in dem einen Moment mit meinem Hocker auf die Option „Samenklau“ gesetzt. Wenn ich selber eh entscheide, das Kind alleine großzuziehen, dann mache ich halt den „Samenklau“. Aber das ist fiktiv. Das war eine Stelle, an der ich ein Stück weit irritiert war, weil es keine Alternativen gab. Das war auch noch an anderen Stellen für mich so, an denen ich dann dachte: Da muss ich jetzt irgendwas entscheiden, wo ich ambivalent bin. Irgendwas wo keiner sich hingesetzt hat. Zum Beispiel mit der Erbschaft. Ob man die Erbschaftssteuer so lässt, wie sie ist, oder ob alle 20.000 Euro kriegen oder noch irgendeine dritte Option. Da war ich irritiert. Da bin ich zwischendurch mal rausgegangen. Also die Vorgaben zwingen einen dazu, sich für eines zu entscheiden und ich habe mich manchmal für dazwischen entschieden.
J: Wie ging es dir dabei?
L: Zu einem Moment wurde dann eine aus dem Publikum ausgesucht, welche fiktiv als Samenspender geeignet wäre, wo ich dachte: Die haben uns die ganze Zeit beobachtet. Da habe ich mich auch etwas manipuliert gefühlt. Aber vielleicht war das auch nur Zufall, dass sie eine Person ausgesucht hat, die ihr gefällt. Aber mich zwingt ja keiner mitzuspielen, da war ich dann manchmal draußen. Es gab auch eine Situation, in der die Leute aufgefordert wurden, sich in die Mitte zu setzen, aber man muss es nicht. Solche Situationen fand ich eher angenehm. Dass man auch mal aufgefordert wurde, nicht mitspielen zu müssen.
J: Wenn du eine Reaktion, eine Stimmung, ein Gefühl für das Stück wählen müsstest, welches wäre das?
L: Nachdenklich und Humorvoll.
J: An welchen Stellen könntest du das festmachen?
L: Ich hatte den Eindruck, schon am Anfang war ein Einverständnis der ganzen Zuschauerrunde, alles nicht furchtbar ernst zu nehmen. Obwohl das eine fürchterliche, toternste Angelegenheit ist. Also in der Realität. Man ist in so einer Situation, ist 41 und hat den wahnsinnigen Wunsch, ein Kind zu kriegen. Das ist es ja für Frauen gelegentlich.
J: Würdest du sagen, es lag alleine an den Leuten oder noch an anderen Gründen, dass es so humorvoll war?
L: Die Stimme, die gesprochen hat. Wer hat eigentlich gesprochen? Die hat so eine Stimme, die einen so wach sein gelassen hat. Und es war sehr klug, die Musik dazu hinzuzufügen. Total toll fand ich die Mischung.
J: Was hat die Musik gemacht?
L: Die hat die Stimmung getragen. Ich habe mir einen Moment lang vorgestellt, wie es wäre, wenn die Musik nicht dabei wäre. Dann wäre das nicht so spielerisch für mich gewesen. Dieser eine Song war total geil. Das hat mir sehr gefallen, dass die dort so Brüche eingebaut haben. Das hätte noch mehr sein können.
J: Was haben die Brüche gebrochen?
L: Sie haben das ganze weggeholt von dem sehr stark gesellschaftlich, soziologisch orientierten Stück. Es ist eine ausführliche Recherche passiert mit Informationen, die ich auch noch nicht kannte. Gerade was die neuere Genforschung betrifft. Mit der Phantasie, dass man so eine Brutstätte machen kann, um Kinder zu kriegen. Da entstand um mich herum auch Widerstand. Das war spürbar. Irgendjemand sagte um mich herum: „Orwell 1984“. Die Musik trägt das ins Fiktive.
J: Was wäre passiert, wenn die Musik nicht da gewesen wäre?
L: Dann wäre das etwas kühler. Eher wie ein performativer soziologische Vortrag. Also ich bin Universitätsprofessorin und ich habe eine Vorlesung probiert, in der ich dann nicht nur Text von mir gebe, sondern auch performativ gestalte. Und das wäre zum Beispiel eine Form, die ich total spannend fände, auch in anderen Kontexten auszuprobieren. Und nicht nur im Theater. Um Informationen anders zu transportieren. Viel lustvoller als wenn ich im Vorlesungssaal sitze.
J: Was hat die Interaktion ausgelöst?
L: Mein Sohn meinte direkt: „Oh nein, da müssen wir was tun.“ Da kommt immer so ein bisschen Widerstand auf. Das ist ja konstruiert in einem Schema, auf einem Spielbrett und dann ist man auf einmal eine gesteuerte Person. Da habe ich so einen kleinen Widerwillen, weil das keine Zwischenräume zulässt. Aber das hat man so akzeptiert. Das war nicht so schlimm und eher lustig.
J: Auch den Widerstand fandest du lustig?
L: Der gehört dazu. Das ist ganz gut, wenn man den noch merkt, finde ich.
J: Was für ein Gefühl ist dieser Widerstand?
L: In dem Sinne, dass man selber frei entscheiden möchte. Man möchte nicht immer mitspielen.
J: Ist das ein Ärger?
L: Nicht wirklich, es löst eher bei mir aus, darüber nachzudenken, wie man das noch anders machen könnte. Zum Beispiel wurde nach den eigenen Augenfarben gefragt. Ich habe so grün, blaue, graue Augen und habe dann die Kiste an die Schnittstelle der jeweiligen Farben gesetzt. Das haben dann andere auch gemacht. Man hat sich gegenseitig angesteckt.
J: Inwiefern war das alles auch nachdenklich und nicht nur humorvoll?
L: Das Thema ist ein ziemlich wichtiges Thema. Auf einer individuellen Ebene ist es auch sehr tragisch. In jede Richtung. Den Kindern auf der Welt geht es insgesamt ja wirklich nicht so gut.
J: Hätte es zu lustig oder zu nachdenklich werden können?
L: Es war nicht so angelegt. Das Drama war nicht angelegt. Also, dass ich wirklich erschüttert werde oder sehr stark berührt werde, das mich etwas wirklich betrifft, das war nicht angelegt.
J: Könntest du dir vorstellen, was das Drama in diesem Stück hätte sein können?
L: Die Figur, die ich mir vorstellen sollte, die 41-Jährige, der hätte potentiell alles Mögliche passieren können, sie hätte ein behindertes Kind kriegen können, wenn es einen Mann gegeben hätte, hätte der weglaufen können – also alles, was in dieser Hinsicht passieren könnte. Das Thema Abtreibung kam gar nicht vor. Das war in meiner Generation ein großes Thema.
J: Jetzt denke ich, ist es zwar ein bisschen anders, aber es ist immer noch ein großes Thema.
L: Ist es immer noch?
J: Ja. Hattest du das Thema vermisst?
L: Für mich und meine Geschichte war das ziemlich krass. Ich gehörte zu den 68ern und da war das verboten. Es gab die Frauenbewegung zu §218 und jetzt ist der immer noch nicht weg. Das sind keine schönen Erlebnisse. Aber ich dachte, dass es nicht mehr so Thema ist für die jetzige Generation. Aber das Thema des Stücks war ja auch eher Kinderwunsch. Unter welchen Bedingungen dieser geschieht, kam zwar auch vor, aber auf einer ganz anderen Ebene. Ich kannte Männer, die wollten keine Kinder und haben sich die Samenleiter durchschneiden lassen. Und der Spielcharakter hat das Thema leicht gemacht.
J: Gab es irgendetwas, dass du ganz anders erlebt hast, das nichts mit Nachdenklichkeit und Humor zu tun hatte?
L: Nein, nicht so richtig. Also diese Gen-Geschichten. Dass man aus Hautzellen Gene entnehmen kann und ein Kind damit zeugen kann, das hat mich erschüttert. Diese Idee. Das geht in den Bereich Ethik hinein. Einen Menschen künstlich erzeugen. Klonen fände ich auch verrückt.
J: Bei diesem Thema hast du etwas anderes gefühlt?
L: Das ist Ablehnung. Da positioniert man sich dann.
J: Und obwohl du dich ja bei allen Themen positionieren musstest, ginge es dir dort anders?
L: Der Anfang war sehr leicht und der erste Bruch war, als jemand gefragt hat, ob man dieselbe politische Einstellung haben muss oder nicht. Da ging es in eine andere Richtung als bei der man angefangen hat. Da war ich auch so erschrocken. Wie weit bestimme ich etwas und wie weit sollte ich es lassen? Das Lebendige ist ja etwas, das man nicht vorherbestimmen kann. Kinder kriegen ist sowas. Da weißt du nicht, was du kriegst.
J: Würdest du sagen, dass aufgrund des Spiels so viele Assoziationen entstanden sind?
L: Ja. Assoziationen, die über das Spiel hinausgingen. Eigentlich eine Essenz, als wir uns immer entscheiden sollten. Es gab keine Lösung für das Spiel. Deswegen habe ich mich auf den „Samenklau“ gesetzt. Weil da noch etwas passiert, wo ich nicht weiß, was daraus wird. Da bestimme ich am wenigsten. Was das Lebendige angeht: wie sehr kann ich es wirklich, wirklich bestimmen oder nicht? Ich selber bin ein zufälliges Produkt, du bist irgendwann vielleicht geplant oder auch nicht und daraus ist was Neues entstanden. Etwas Geheimnissvolles, etwas das nicht zu bestimmen ist. Das ist für mich die Essenz für das Stück.
J: Woher glaubst du kam der Eindruck, dass das die Essenz ist?
L: Die kam durch die Begegnung mit diesem Spiel. Die macht sich fest an den Spielregeln. Die tun so, als ob ich eine Wahl hätte. Auch wenn ich weiß, dass es ein Spiel ist. Aber ist es wirklich so, dass ich eine Wahl habe? Bei dem Spiel als auch bei dem Leben des Kindes.
J: Was wäre in deiner Phantasie passiert, wenn du gar keine Wahl gehabt hättest?
L: So konkret kann ich dir das nicht sagen. In dem Moment wirst du nur angeregt und dann geht es schon weiter. Aber in dem Moment, in dem wir uns hier unterhalten, kann es unheimlich viele Dinge auslösen.
J: Wie war die Kommunikation mit den anderen Leuten? Wie habt ihr kommuniziert?
L: Gut. Die waren alle offen. Mit Blicken, manchmal haben wir ein bisschen geredet.
Es gab so eine Situation, die ich nicht so richtig durchschaut habe. Das war bevor die Person sich gezeigt hat, die das Stück gemacht hat. Da war sehr viel Blickkontakt. Da ging gut was ab. Das war der intensivste Moment. Blickkontakt ist immer eine starke Intensität. Mehr als irgendeine Sitzkiste irgendwo hinzustellen und in eine neue Gruppierung sich einzuordnen.
J: Kannst du diese Intensität des Blicks beschreiben?
L: Wie man jemanden wahrnimmt. Wie er da sitzt. Wie er sich zeigt. Das war sehr eigen, kann ich nur sagen. Nur angenehm und nicht übergriffig.
J: Kamst du dabei zu anderen Gedanken als zuvor?
L: Nein, das war nur eine andere Intensität. So wie mit dem Nebel und dem Licht an einer anderen Stelle. Das Licht spielte auch eine große Rolle. Mal waren wir ganz hell erleuchtet und ich werde auch gesehen von den anderen und ich schaue nur, wo die anderen sind. Und dann gab es auch die Momente, in denen keine anderen präsent sind. Wo man mehr im schattigen Licht war. Die Lichtregie hat uns geführt und uns Stimmung gemacht. Das Abdunkeln fühlte sich mehr so an: „Ich bin wieder mehr bei mir.“ Diese Verschiedenheit war sehr wichtig, weil es mir auch ermöglicht hat, mich immer wieder neu zu verorten in dem Raum. Das muss man sich ja auch trauen. Ich hatte gedacht, ich bin doch schon so alt und da kommen nur so ganz viele junge Frauen. Ich war ganz froh, dass es nicht so gewesen ist.
J: Du hast das Stück ja deinem Sohn empfohlen. Hat es dich denn selbst auch angesprochen?
L: Ich habe gedacht: Das ist ein Thema, das habe ich schon abgehakt.
J: Und jetzt?
L: Naja, es ist dann doch anders, als man es sich vorstellt. Die Informationen haben mich sehr erschreckt, was in der Genforschung passiert. Und dann habe ich mich gefragt, welche Erfahrungen habe ich schon gemacht, oder was ist an dem Thema so wichtig. Auch in Bezug auf meinen Sohn, den beschäftigt es sehr.
J: Unter welchen Umständen hätte deine gesamte Reaktion ganz anders sein können?
L: Wenn zum Beispiel Medea gekommen wäre. Wenn man in die Antike greift und die Kinder ermordet werden. Das ergreift auch. Also die Erbschaftsfrage ist nicht nur eine heutige.
J: Also das war jetzt kein gegenwärtiges Medea-Stück, würdest du sagen?
L: Nein, aber das fällt mir dazu ein und das wäre auch spannend. In die Geschichte rein zu gehen – habe ich aber nicht erwartet.
J: Wofür glaubst du, bist dort rein gegangen?
L: Das ist eine gute Frage. Ich bin mit meinem Sohn zusammen gegangen und da steckt ja schon das Thema Erbe drin. Und ich fand toll, dass er sich dafür interessiert. Er ist im Gamer-Bereich und hat ganz viel mit dem Interaktiven zu tun. Ich freue mich riesig, dass er dabei ist.